6. Wie wird Bürger:innenbeteiligung vorbereitet und durchgeführt?
6.1 Unterschied zwischen formeller und informeller Bürger:innenbeteiligung
Die Gesetzgebung sieht unterschiedliche Formen der Bürger:innenbeteiligung vor:
- Formelle standardisierte Beteiligungsformen, wie z.B. im Baugesetzbuch, bei denen alle Einzelheiten der Beteiligung gesetzlich geregelt werden.
- Formelle nicht standardisierte Beteiligungsformen, z.B. in der Städtebauförderung, bei denen Beteiligung zwar empfohlen und teilweise zur Bedingung gemacht wird, aber die Umsetzung weitgehend den zuständigen Behörden überlassen wird.
In diesem Dokument ist auch von einer dritten Form der Beteiligung die Rede:
- Informelle Beteiligung, die auf Initiative der Behörden oder der Bürgerschaft durchgeführt wird, obwohl dies gesetzlich nicht vorgeschrieben wird. Hier ist es besonders wichtig, Einzelheiten des jeweiligen Beteiligungsverfahrens vorab zu definieren und in der Planung (s. unten) festzuhalten.
Die Entscheidung durch die zuständigen Fachämter über die Aufnahme von informeller Beteiligung wird durch die Abwägung folgender Kriterien herbeigeführt:
- Liegt hier das Interesse einer Vielzahl[1] von Einwohner:innen vor?
- Kann ein besonderes Interesse einzelner Stadtteile angenommen werden?
- Geht es um große gesamtbezirkliche Vorhaben?
- Handelt es sich um wegweisende Zukunftsplanungen, die die finanziellen oder personellen Ressourcen der Stadt auf viele Jahre binden?
- Sind die für ein Beteiligungsverfahren erforderlichen personellen, finanziellen und zeitlichen Ressourcen vorhanden?
Obere Kriterien werden im Handbuch näher definiert und sind immer vorhabenabhängig. Darüber hinaus gelten die im Abschnitt 5.1 aufgeführten Kriterien.
Alle Verfahren, bei denen Bürger:innenbeteiligung (formell oder informell) vorgesehen ist, kommen auf die Vorhabenliste. Es liegt im Ermessen der zuständigen Fachämter, ob weitere Vorhaben ohne Bürger:innenbeteiligung aufgelistet werden.
Die Verantwortung für die Planung, Umsetzung, Dokumentation und Auswertung aller Beteiligungsverfahren, liegt beim jeweils federführenden Fachamt mit Unterstützung der Koordinierungsstelle Bürger:innenbeteiligung.
[1] Ob es sich um eine Vielzahl von Einwohner:innen handelt, definiert das federführende Fachamt, aufgrund der unterschiedlichen Größenordnungen von Projekten, vorhabenbezogen.
6.2 Anregung von Beteiligung durch Bürger:innen
Einzelne Bürger:innen sowie Akteur:innengruppen aus der Zivilgesellschaft und Initiativen haben drei Möglichkeiten, von den Fachämtern nicht vorgesehene Beteiligung anzuregen: a. Informeller Antrag, b. Beteiligungsantrag und c. Einwohnerantrag
- Bürger:innen und Akteur:innengruppen aus der organisierten Zivilgesellschaft können formlos anregen, dass für bestimmte Vorhaben ein Beteiligungsverfahren durchgeführt wird, selbst wenn dies nicht vorgesehen ist. Die Koordinierungsstelle Bürger:innenbeteiligung berät dabei die Antragstellenenden, nimmt die formlosen Anträge entgegen und überprüft sie in Absprache mit dem zuständigen Fachamt. Die Entscheidung über die Aufnahme eines durch die Fachämter nicht vorgesehenen Beteiligungsverfahrens liegt beim zuständigen Fachamt.
- Bei Ablehnung einer formlosen Anregung besteht die Möglichkeit der Anregung über einen Beteiligungsantrag. Dieser wird als Formblatt von der Koordinierungsstelle zur Verfügung gestellt, die Antragstellende bei der Bearbeitung auch berät. Darin sind Informationen zu den Antragstellenden, dem Vorhaben sowie Begründung und Ziel des geforderten Beteiligungsverfahrens enthalten. Der Beteiligungsantrag wird von der bezirklichen Koordinierungsstelle an die zuständige Stadträtin beziehungsweise den zuständigen Stadtrat weitergeleitet. Die Entscheidung liegt hier bei der Stadträtin bzw. dem Stadtrat in Absprache mit dem zuständigen Fachamt.
- Es besteht weiterhin die Möglichkeit eines formellen Einwohnerantrags (§ 44 BezVG) bei Ablehnung des Beteiligungsantrags. „Mit einem Einwohnerantrag können Einwohnerinnen und Einwohner des Bezirks, die das 16. Lebensjahr vollendet haben, Empfehlungen an die BVV richten. […] Er ist nur zulässig, wenn er von mindestens 1.000 Einwohnerinnen und Einwohnern des Bezirks unterstützt wird. Unterschriftsberechtigt sind alle Einwohnerinnen und Einwohner, die zum Zeitpunkt der Unterschrift das 16. Lebensjahr vollendet haben und im Bezirk mit Hauptwohnsitz gemeldet sind. Ist der Einwohnerantrag zulässig, entscheidet die Bezirksverordnetenversammlung unverzüglich, spätestens jedoch innerhalb von zwei Monaten nach Eingang des Antrags.“[1]
Die Einschätzung über Gesetzeslage, Inhalt und Form der Beteiligungsverfahren obliegt den Expert:innen in den zuständigen Fachämtern. Dies wird den Bürger:innen offen kommuniziert.
Εs kann pro Vorhaben nur ein Antrag in derselben Kategorie gestellt werden. D.h. es können nicht mehrere Anträge selben Typs (formloser Antrag, Beteiligungsantrag, Einwohnerantrag) für dasselbe Vorhaben gestellt werden. Umgang mit den Ergebnissen der Beteiligung von Bürger:innen
Am Umgang mit den Ergebnissen der Bürger:innenbeteiligung messen Bürger*innen die Absichten, Zuverlässigkeit und Verbindlichkeit von Politik und Verwaltung. Vertrauen in die Politik und die Verwaltung, die Grundlage von Bürger:innenbeteiligung, basiert in erster Linie auf vorherigen Erfahrungen, braucht Zeit, um aufgebaut zu werden und kann durch einzelne Fehler verloren gehen. Es ist daher zwingend notwendig, sorgfältig und transparent mit den Ergebnissen von Bürger:innenbeteiligung umzugehen.
Um die Qualität der Veröffentlichung, Dokumentation und Evaluation in den Beteiligungsprozessen zu sichern, entwickelt die Koordinierungsstelle Bürger:innenbeteiligung „Standards der Dokumentation und Evaluation von Beteiligungsverfahren“, die im Handbuch für Bürger:innenbeteiligung in Berlin-Spandau festgehalten werden.
Folgende Anforderungen für den Umgang mit den Ergebnissen werden dabei berücksichtigt:
- Die Ergebnisse der Beteiligungsprozesse werden in angemessenem Umfang und ressourcenabhängig vorhabenbegleitend dokumentiert und klar, übersichtlich, nachvollziehbar sowie in allgemeinverständlicher Sprache aufbereitet.
- Die Ergebnisse werden so weit wie möglich an die in den Beteiligungsprozess eingebundenen Einwohner:innensowie die lokale Öffentlichkeit rückgekoppelt. Dies geschieht in Absprache zwischen dem federführenden Fachamt, der Koordinierungsstelle Bürger:innenbeteiligung und den dezentralen Stellen für Bürger:innenbeteiligung.
- Die Ergebnisse werden im Internet (z.B. auf der Homepage des Bezirksamts, Homepage des jeweiligen Fachamtes) und über geeignete Maßnahmen der Öffentlichkeitsarbeit (z.B. Pressemitteilungen) bekannt gemacht.
Alle Ergebnisse werden in der jeweiligen Vorhabendokumentation von der jeweiligen Projektleitung festgehalten.
[1] https://www.berlin.de/sen/inneres/buerger-und-staat/wahlen-und-abstimmungen/einwohnerantrag-buergerbegehren-und-buergerentscheid/
6.4 Der Prozess der Beteiligung von Bürger:innen
Der Prozess der Beteiligung von Bürger:innen verläuft in drei Phasen:
Abbildung 3: Phasen des Beteiligungsprozesses
Phase A: Erstellung der Vorhabenliste und Planung der Beteiligungsverfahren sowie gegebenenfalls Überprüfung von durch Bürger:innen angeregter Beteiligung
Abbildung 4: Darstellung des Vorbereitungsprozesses (Phase A) von Bürger:innenbeteiligungsverfahren. (FA=Fachamt, KoordBB= Koordinierungsstelle Bürger:innenbeteiligung, VL= Vorhabenliste).
Fachämter erstellen Steckbriefe zu ihren Vorhaben, die sie an die Koordinierungsstelle Bürger:innenbeteiligung weiterleiten. Auf Basis der Steckbriefe erstellt letztere die Vorhabenliste des Bezirks.
Vorhaben, bei denen die Beteiligung von Bürger:innen gesetzlich geregelt ist oder bei denen das Fachamt ein Beteiligungsverfahren empfiehlt, werden zwingend in die Vorhabenliste aufgenommen. Es liegt im Ermessen der Fachämter, weitere Verfahren, bei denen keine Beteiligung vorgesehen ist, auf die Vorhabenliste zu setzen.
Gleichzeitig wird für jedes Vorhaben mit Bürger:innenbeteiligung ein Beteiligungsverfahren geplant. In der Planung der Beteiligungsverfahrens sind alle wichtigen Einzelheiten über das Verfahren enthalten (s. unten). Die Planung des Beteiligungsverfahrens dient vorranging als verwaltungsinternes Dokument. Zur Bekanntmachung der Vorhabenliste in Druckform und digital, zentral und dezentral, s. vorheriges Kapitel.
Bürger:innen haben die Möglichkeit, Beteiligung anzuregen (s. 5.3) bei Vorhaben, die entweder nicht auf der Vorhabenliste stehen oder die zwar auf der Vorhabenliste stehen, aber für die keine Beteiligung vorgesehen ist. In beiden Fällen überprüft die Koordinierungsstelle den Antrag und nimmt in Kooperation mit dem dafür zuständigen Fachamt schriftlich Stellung.
Abbildung 5: Darstellung des Prozesses zur Aufnahme nicht vorgesehener Beteiligungsverfahren (Phase A). (BB= Bürger:innenbeteiligung, VL= Vorhabenliste, FA=Fachamt, KoordBB= Koordinierungsstelle Bürger:innenbeteiligung).
In beiden Fällen, Annahme oder Ablehnung, werden die Antragstellenden über die Entscheidung informiert. Bei Ablehnung muss auch die Begründung für die Entscheidung mitgeteilt werden.
Hinweis: Die Entscheidung über die Durchführung einer Bürger:innenbeteiligung muss bei Bauvorhaben bereits vor Aufnahme der unmittelbaren Projektbearbeitung getroffen werden, da diese sehr terminkritisch sind.
Phase B: Durchführung des Beteiligungsverfahrens
Die Bürger:innenbeteiligung wird, so wie in der Planung des Beteiligungsverfahrens vorgesehen, durchgeführt.
Phase C: Auswertung und Rückkopplung
Abbildung 6: Darstellung der Phase B und C eines Beteiligungsverfahrens, von der Durchführung bis zur Rückkopplung mit den Bürger:innen. (BB= Bürger:innenbeteiligung)
Das zuständige Fachamt übernimmt die vorhabenbezogene Auswertung (s. nächstes Kapitel). Es wird dabei von der Koordinierungsstelle Bürger:innenbeteiligung unterstützt. Die Ergebnisse der Beteiligungsverfahrens werden öffentlich bekannt gemacht.
Eine Evaluation des Gesamtprozesses wird federführend von der Koordinierungsstelle Bürger:innenbeteiligung einmal jährlich durchgeführt.
Abbildung 7: Vereinfachte Darstellung des Gesamtprozesses der Bürger:innenbeteiligung von der Erstellung der Vorhabenliste bis zur Rechenschaft. (FA = Fachamt, BB = Bürger:innenbeteiligung, VL= Vorhabenliste, KoordBB = Koordinierungsstelle Bürger:innenbeteiligung)
6.5 Beteiligungsverfahren
Bereits heute planen die zuständigen Fachämter Beteiligungsverfahren für Vorhaben, bei denen Bürger:innenbeteiligung vorgesehen ist. Folgende Tabelle soll diese Planung in Zukunft strukturieren und vereinheitlichen (Entwurf des Produkts 80982 „Vorhaben der informellen Bürger/innenbeteiligung“, Produktkatalog des Landes Berlin):
Tabelle 4: Inhalt Vorhabenbezogener Beteiligungsverfahren
6.6 Weitere Formate der Bürger:innenbeteiligung
Es bestehen weitere Formen der Beteiligung von Bürger:innen in allen kommunalpolitischen Themen. Da dies bereits rechtlich festgeschrieben ist, sollen sie hier nur kurz erwähnt werden:
- Bürgerentscheide (§§ 45 bis 47b des Bezirksverwaltungsgesetzes BezVG)
- Unterrichtung der Einwohnerschaft (§ 41 BezVG)
- Einwohnerversammlung (§ 42 BezVG)
- Einwohnerfragestunde in der BVV (§ 43 BezVG)
- Einwohnerantrag (§ 44 BezVG) (s. oben)
Diese Instrumente der Mitwirkung der Einwohnerschaft auf Bezirksebene stehen allen Personen unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit zu. Dabei steht die Information über die aktuellen kommunalpolitischen Themen im Vordergrund.