Französische Planungsprinzipien
Es ist sehr schade, dass in Deutschland ausschließlich auf den verkehrlichen Zweck der Straßenbahnen wertgelegt wird. Daher möchte ich anregen, zunehmend die französische Planungsphilosophie zu berücksichtigen. Auch dort stand die Straßenbahn massivem Widerstand gegenüber, der jedoch mit vollständiger städtebaulicher Integration beräumt werden konnte. Den Anfang machte 1987 Grenoble, gefolgt 1994 von Strasbourg. In beiden Städten erachtete man eine U-Bahn für zu teuer (analog hier) und erzeugte die notwendige Akzeptanz mithilfe der städtebaulichen Vollintegration.
Das betrifft insbesondere:
- Die Straßenbahn wird nicht über Hauptstraßen geführt (wo keiner hinmöchte), sondern durch Nebenstraßen direkt in die Aufkommensschwerpunkte mit absolutem Vorrang. Dies verkürzt für Fußgänger die Wege massiv (wodurch die Tür-zu-Tür-Fahrzeiten gleich bleiben, aber Fußwege verkürzt) und ist damit obendrein bequemer.
- Die Anlagen der Bahn werden nicht raumprägend, sondern "versteckt" eingefügt.
- Als wichtigstes Instrument hat sich die Erschließung bisheriger „Tabuzonen“ erwiesen, die jedoch Quellen und Ziele der größten Verkehrsaufkommen sind.
- Die konsequente Verkehrsberuhigung in von der Tram befahrenen Straßen. Bemerkenswert ist, dass in Frankreich mittlerweile lieber auf den MIV als auf den besonderen Bahnkörper verzichtet wird. Die Bevölkerung trägt dies mit.
- Zuschlagen des vom MIV freigewordenen Raumes konsequent für Fußgänger und Radfahrer.
- Die Straßenbahn folgt den Schwerelinien der Bebauung (und das sind nicht die Hauptstraßen), umgekehrt folgt Neuplanung den ÖV-Schwerelinien. Letzteres ist vergleichbar dem Berliner Siedlungsstern. Auf diese Weise wird eine direkte Verbindung von neuen und alten Zentren sowie großen Verkehrserzeugern erreicht.
- Konsequente Mischnutzung
- Durchgängige Querungsmöglichkeit für Fußgänger, d.h. keine Drängelgitter und Plangleichheit, analog z.B. dem Alexanderplatz oder dem Hackeschen Markt.
- Konsequenter Verzicht auf jegliche Bordsteinkanten (das ist mit Blick auf Wien etc., wo das super funktioniert, nebenbei bemerkt auch der relevante Fehler an den Begegnungszonen, aber das nur nebenbei).
- Stattdessen implizite Straßenmarkierung durch Oberbau-Materialienwahl (z.B. heller Straßenstein im Fußgängerbereich mit durch dunklen Schiefer abgesetze Schienenbereiche).
- Überplanung der Straßen von Fassade zu Fassade anstatt nur zwischen den Bordsteinkanten. Da für die Bahn ohnehin umgebaut werden muss, sollten die Potentiale maximal genutzt werden.
- Elemente wie Rasengleis, Stadtmobiliar, Kunstobjekte, oberleitungslose Abschnitte quer über historische Plätze und sonstige teure Stadtgestaltung ohne verkehrlichen Mehrwert müssen daher nicht gerechtfertigt werden.
- Designplanung der Bahnanlagen und der Züge nicht im Sinne einer "nachgeordneten Verhübschung technischer Notwendigkeiten", sondern als gleichberechtigte Disziplinen Stadt- und Verkehrsplanung als einheitliche Planung von Strecke, Fahrzeug und Umfeld. Das ist den deutschen ÖV-Konzepten bisher weitgehend fremd.
- Ingenieurbauwerke werden eingefügt und individuell entworfen anstatt dass auf Fertig- oder Einheitsbauweise zurückgegriffen wird.
- Begleitende städtebauliche Sanierungsmaßnahmen.
- Herausstellen der Bahn als den Stadtraum prägende "Stadttechnologie", für die man sich nicht entschuldigen muss, sondern die Teil der städtischen Identität ist (die die BVG-Busse und U-Bahnen auf gesamtberliner Ebene bereits sind).
- Erprobung innovativer Technologien. Die französische Alimentation par le Sol ist da nur das bekannteste Beispiel (und beweist eindrucksvoll wie technische Lösungen gefunden werden, wenn der Wille nach Stadtgestaltung da ist). Besonders eindrucksvoll ist die anfangs hoch umstrittene Linie B der Straßenbahn von Orléans direkt auf der wichtigsten und repräsentativsten Straße der Stadt. Die Strecke konnte mit 2,2km APS realisiert werden, hervorzuheben ist die Integration der Bahn in das Stadtbild.
Die französischen Planungsprinzipien werden belohnt durch eine sehr hohe Fahrgastabschöpfung, die auf kürzeren Strecken deutlich über dem Niveau vergleichbarer deutscher Städte liegt. Teilweise erreichen die Linien einen so enormen Fahrgastgewinn, dass in anderen Ländern für die entsprechenden Strecken U-Bahnen ernsthaft in Erwägung gezogen worden wären. So befördert die Ligne 1 in Montpellier täglich 120.000 Fahrgäste. In fast allen Städten, die Nahverkehr auf Eigentrasse neu einführten, wurde ein deutlicher Modal Shift vom MIV zum ÖPNV ersichtlich, in den reinen Busstädten gibt es keine vergleichbare Entwicklung.
In Straßburg ging das automobile Verkehrsaufkommen in nur drei Jahren um 17% zurück, im Gegensatz dazu stieg das Fußverkehrsaufkommen um 20%, die Fahrgastzahlen im ÖPNV nahmen im diesen drei Jahren sogar um 43% zu. Nach der Eröffnung einer zweiten Stammstrecke kam es erneut zu einem ähnlich starken Modal Shift. In Grenoble wurde zwischen 1985 und 2007 der Modal Split des ÖV von 11% auf 20% beinahe verdoppelt. Selbst in Nantes, das noch sehr stark den deutschen Stadtbahnen entsprach, zeigte sich innerhalb von 10 Jahren ein Wachstum des ÖPNV-Anteils am Einkaufsverkehr von 20% auf inzwischen über die Hälfte, gleichzeitig stiegen die Einzelhandelseinkaufszahlen um 20% an. Die Zentren sind deutlich belebter, es sind wesentlich mehr Fußgänger unterwegs als früher, die subjektive und objektive Sicherheit haben sich deutlich erhöht. Diese Entwicklung wird der Straßenbahn zugeschrieben. Hatte die lokale Wirtschaft zuvor noch eindringlich vor gravierenden Umsatzeinbußen durch den Wegfall des Kfz-Verkehrs gewarnt, so kam es in Grenoble nach der Sperrung für den MIV zu signifikanten Umsatzsteigerungen in den betroffenen Geschäftsstraßen von teilweise bis zu 17%. Obwohl eine Abwanderung der Kundschaft in die neuen Zentren im Außenbereich befürchtet wurde, ging die Stärkung der Innenstädte fast vollständig zulasten dieser.
Dass weniger die Straßenbahn, sondern vielmehr die ihr zugrundeliegenden Planungsleitbilder mit integrierter Betrachtung von Verkehrsinfrastruktur, Fahrzeugdesign und Stadtraumgestaltung für das Aufleben der Innenstädte verantwortlich war, zeigen die französischen BHNS-Systeme (auf diese möchte ich hier nicht eingehen, weil das doch zu weit führen würde. Wichtig ist nur, dass diese die gleichen Effekte auslösen können).
Nachdem das französische Finanzministerium 2009 die Förderung für kombinierte Stadt- und Verkehrsprojekte im Rahmen eines Umweltgipfels wieder einführte (sie waren nur sechs Jahre zuvor gestrichen worden), kam es zu einem neuerlichen Aufleben von Auf- und Ausbauprogrammen. Unterstützt wurden diese unter anderem durch die Stadt Le Mans. Diese bewies 2007, dass Straßenbahnprojekte französischer Bauart auch verhältnismäßig kostengünstig umsetzbar sind ohne Verlust an Erfüllung der städtebaulichen und verkehrlichen Ziele. Angers optimierte diesen Ansatz nochmals, dort befinden sich die Kosten für die neue Straßenbahn pro Kilometer auf einem vergleichbaren Niveau mit denen deutscher Projekte, trotz des enormen Gestaltungsaufwandes, immerhin 1,5km APS, das auch in der Vorstadt zum Einsatz kommt und einer komplett neuen Brücke.
Vor dem Hintergrund der aktuellen Diskussionen um Fahrverbote, Klimawandel und eben hier die Verlängerung der M10 erscheint ein Blick in unser Nachbarland hilfreich. Die französische Renaissance der Straßenbahn zeigt, wie überzeugende ÖPNV-Konzepte große Modal Shifts auslösen können und dass flächenhafte Verkehrsberuhigungen, wie ursprünglich auch dort befürchtet, kein „Innenstadtsterben“ auslösten. Vielmehr profitierten die Städte durch die gesetzlich geforderten Maßnahmen pro Umweltverbund massiv. Die französischen Planungsprinzipien ermöglichen darüber hinaus Kfz-freie Innenstädte (die dort nun flächendecken eingeführt wurden und werden), daher lohnt sich ein genauerer Blick, welche Ansätze und organisatorischen Rahmenbedingungen in anderen Ländern ebenfalls nutzbringend etabliert werden können. Dies betrifft insbesondere die einheitliche Finanzbasis von Stadt- und Verkehrsplanung, die einen Straßenraumentwurf nicht nur zwischen den Bordsteinen ermöglicht.
Es sollte festgehalten werden, dass eine Motivation für viele politische Akteure die Schaffung eines Vorzeige-ÖV war, da dies politisch als Indikator für gelungene Stadtpolitik gesehen wurde und wird. Grundlage für die Entscheidungen war dabei jeweils die Frage, welche Ziele verfolgt wurden. Anfangs war dies einfach die effizientere Abwicklung des Verkehrs mithilfe einer französischen Eigentechnologie auf Atomstrombasis. Nach den ersten umgesetzten Projekten wurde es jedoch schnell zu einem weitergehenden Ansatz mit den Zielen, die Zersiedelung zu stoppen, die soziale Reinklusion durch die Sicherstellung von Erreichbarkeit zu fördern, eine visuelle Aufwertung der Stadt zu erreichen, die Wirtschaft zu beleben und vielen mehr. Die Straßenbahn wird in Frankreich daher als Werkzeug zum Stadtumbau sowie als belebendes und gestalterisches Element zugleich gesehen und nicht nur als „verkehrlich notwendiges Übel“ wie hierzulande. Die neuen Straßenbahnen für den grenzüberschreitenden Verkehr von Straßburg nach Kehl am Rhein (D) vermitteln einen Eindruck des stadtgestalterischen Potentials:
(http://www.peugeotdesignlab.com/sites/default/files/2016-06/tramway-strasbourg-appel-offre--alstom-transport-peugeot-design-lab-02-rendus-digital-only.jpg) – Link dient der Veranschaulichung, das soll keine Werbung für Alstom sein. Die Rechte des Bildes liegen nicht bei mir, daher nur Verlinkung.
Einer der wichtigsten Aspekte des Erfolgs der ÖPNV-Projekte liegt in den Flächenumverteilungen weg von der auto- und verkehrsgerechten Stadt hin zu einer stadtverträglicheren Mobilität und der damit verbundenen Rückgewinnung der Stadt für zu Fuß Gehende. Dies sollten wir im Rahmen der anstehenden Verkehrswende und dem hiesigen Straßenbahnausbau berücksichtigen und in Zukunft nicht mehr nur die Kosten ins Feld führen, um U- und Straßenbahn gegeneinander auszuspielen. Davon profiertiert einzig der MIV.
Edit: Anmerkung zur M10-Präsentation: Aufrund der o.g. Ansätze ist ausgerechnet die Wahl von Paris als "Best Practice" in der Präsentation ein Bisschen schwierig, da sich durch die vorhandene Métro dort noch stark am MIV orientiert und die Tram ein wenig stiefmütterlich behandelt wird (wie in Deutschland). Ein Blick in alle Großstädte, die nicht zu den sechs mit U-Bahn gehören (Paris, Lyon, Marseille, Rennes, Lille, Toulouse) lohnt sich daher deutlich mehr, um die Planungsprinzipien kennen zu lernen. Gemeint sind z.B. Bordeaux, Le Mans, Grenoble, Tours, Limoges, Nantes, Dijon, Strasbourg, Brest, Valenciennes, Nizza, ...)