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Entlastungsstadt bei Berlin

Siedlungsentwicklung und Wohnungsmarkt

Berlin liegt in Brandenburg - Teil 2 Dipl.-Ing. Architekt Ulrich Springer Im ersten Teil (Heft 1/2015 Baukammerzeitschrift) beschreibt der Autor die grundverschiedenen Ausgangsbedingungen von Berlin und Brandenburg bei der demografischen und wirtschaftlichen Entwicklung. Die beiden Bundesländer wachsen, ja wuchern konzeptionslos ineinander und ignorieren sich beiderseitig bei Stadt- und Landesplanung, obwohl genau das Gegenteil notwendig wäre. Die Entlastungsstadt Sooft die Landesregierung in Potsdam versichert, die Lausitz, Prignitz oder Uckermark nicht sich selbst zu überlassen,fehlt ein ähnliches Bekenntnis gegen das zufällige Ausufern Berlins. Um das planlose Ergießen von Großstädten in ihr Umland frühzeitig zu steuern, den Flächenverbrauch zu beschränken oder in geordnete Bahnen zu lenken, wurde einst die Entlastungsstadt entwickelt. 1946 verabschiedete das britische Parlament mit Blick auf den Wiederaufbau nach dem Krieg, aber auch voller Unbehagen über wachsende Großstädte,besonders das ausufernde London mit mehr als acht Millionen Einwohnern, das Gesetz über die Neu- bzw. Planstädte (New Towns Act). Mit ihm wurde es der Regierung möglich, landesweit Entwicklungsflächen auszuweisen und für deren Bebauung Planungs- und Entwicklungsgesellschaften mit außerordentlich weit reichenden Vollmachten ins Leben zurufen. Sie umfassten Vorkaufsrechte für Land einschließlich der Möglichkeit von Zwangsverkäufen, zentralisierte und zügige Planverfahren, das Erschließen von Bauland sowie dessen Anbindung an die Verkehrsnetze. Die Ankauf- und Entwicklungskosten wurden durch Abschöpfen gestiegener Bodenpreise bei Wiederverkauf der Grundstücke eingespielt und garantierten den Erfolg sowie die Refinanzierung sämtlicher Maßnahmen. Auf Basis dieses Gesetzes (das 1965 überarbeitet wurde) sowie eines weiteren Gesetzes über Stadt- und Landschaftsplanung zur Eindämmung städtischer Randsiedlungen, entstanden in den folgenden drei Jahrzehnten 32 neue, eigenständige Städte. Anfangs überwiegend im weiteren Einzugsgebiet von London angelegt, verteilen sie sich schließlich über ganz England, Schottland und Wales. Heute wohnen in ihnen rund 2,5 Millionen Menschen. Vielen ist gar nicht bewusst, dass sie Bürger von Planstädten sind, deren Anlage stark den Vorstellungen der Gartenstadt-Anhänger entsprach. Die Hoffnungen der Planer, das schier unaufhaltsame Wachstum der Hauptstadt zu brechen oder mindestens zu bremsen, erfüllten sich nur vorübergehend. London zählt heute mehr Einwohner denn je. Auch deshalb liefen in den 1970er Jahren die letzten Entwicklungsprojekte aus, und das 1981 nochmals frisch novellierte Gesetz geriet in Vergessenheit. Das könnte sich ändern. Die Gesellschaft der Stadt- und Landschaftsplaner in Großbritannien hat angesichts des zunehmenden Wohnraummangels und stark wachsender Grundstücks- und Wohnungspreise dazu aufgerufen, den schlafenden „New Towns Act“ für 2015 zu reaktivieren, zeitgemäß zu überarbeiten und neue Entwicklungsgesellschaften ins Leben zu rufen. Nach englischem Vorbild und unter gleichem Namen hob die französische Regierung in den 1960er Jahren das Modell der „Villes Nouvelles“ (Neue Städte) aus der Taufe. Vorübergehend wurde sogar die Gründung eines zweiten Paris östlich des alten erwogen. Im Ergebnis jahrelanger Diskussionen sah ein Generalplan schließlich die Errichtung von Satellitenstädten in 30 Kilometern Entfernung zur Hauptstadt mit je einer halben Millionen Einwohner vor. Auf Basis optimistischer Bevölkerungsprojektionen und in Abgrenzung zum englischen Modell, das als zu kleinteilig, provinziell und zu fern der Metropole empfunden wurde, entstanden allein um Paris fünf Entlastungsstädte. Anstelle des zunächst auf 3,5 Millionen und zuletzt noch auf eine Million Menschen konzipierten Ausbaus leben dort heute zusammen rund 750.000 Einwohner. Wie das Konzept der Entlastungsstadt erfolgreich umgesetzt werden kann, beweisen hingegen die Niederlande. Als Bevölkerungsventil für die Hauptstadt Amsterdam entstand eine neue Ortschaft buchstäblich aus dem Nichts. Um den Einwohneranstieg durch den starken Zustrom von Menschen einzudämmen, wurde 1970 auf den trockengelegten Polderflächen des Ijselmeers, zehn Kilometer östlich der Metropole, mit dem Bau von Almere begonnen. Heute besteht diese dem Wasser abgewonnene und auf dem Reißbrett entworfene Stadt aus sechs Bezirken, zählt 200.000 Einwohner - ist damit die siebtgrößte der Niederlande – und erweitert sich gegenwärtig als beliebter Bevölkerungsmagnet um zwei zusätzliche Stadtteile. Mit Almere sowie kleinen Stadt- und Siedlungsprojekten gelang es tatsächlich, Menschen in Hollands größtem Ballungsraum planvoll zu verteilen und dabei lebenswerte, anziehende Ausweichstädte sowie -quartiere zu schaffen. Ähnlich wie in London hat sich gleichwohl auch in Amsterdam das Bevölkerungswachstum nach einer vorübergehenden Delle seit Mitte der 1980er Jahre auf heute wieder über 800.000 Einwohner beschleunigt. Wirkliche Metropolen behalten auf Dauer ihre Anziehungskraft. Während es in Europa, nicht zuletzt wegen insgesamt stagnierender Bevölkerungszahlen und eher moderat wachsender Metropolen, um das Thema Entlastungsstädte still geworden ist, richten sich die Augen auf China. Mit Lingang New City entsteht als künftige Entlastungsstadt Shanghais südlich des Flughafens Pudong das wohl größte und ambitionierteste Einzelprojekt seiner Art aller Zeiten. Anstelle von zunächst geplanten 300.000 Bewohnern wurde die Fläche später kurzerhand auf 74 Quadratkilometer für 800.000 Menschen erweitert. Den Masterplan des Projekts entwirft das Hamburger Architektenbüro von Gerkan, Marg und Partner, die Planung eines anderen Großquartiers für über 100.000 Menschen das Büro Albert Speer & Partner aus Frankfurt. Vieles an Stadt- und Raumplanung in China trägt die typischen Züge europäischer Stadtgeographie oder -morphologie mit ausgreifender „Radial-Ringstruktur“ mit Plätzen, Grünzügen und Blockrandbebauung etc. Nichts wird jedoch historisch gewachsen sein, sondern in einem Wurf von Papier auf den Baugrund gebracht. Das märkische Berlin Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs gab es Überlegungen, Berlin dem Erdboden gleichzumachen und die Stadt an anderer Stelle völlig neu zu errichten. Es blieb glücklicherweise bei Hirngespinsten. Regelrechte Neugründungen mit Entlastungsfunktion für vorhandene Städte gab es in Deutschland kaum. Mit Halle-Neustadt, München-Neuperlach oder dem Märkischen Viertel in Berlin entstanden hingegen zahlreiche Satellitenstädte, die selbst kein urbanes Leben haben, sondern Bettenburgen gleichen. Es war ein Tiefpunkt städtebaulicher Fehlentwicklung, bei der hochfliegende Pläne die Großsiedlungen und Quartiere rasch zu sozialen Brennpunkten verkommen ließ. Die landeseigene Wohnungsbaugesellschaft GESOBAU wertet das Märkische Viertel bis 2016 in einem der teuersten deutschen Sanierungsvorhaben auf und versucht sich an einer attraktiven Umgestaltung der Hochhaussiedlung. Es bleibt abzuwarten, ob sich die 38.000 Bewohner anschließend wohler und heimischer fühlen oder über die Wiesen und Felder von Lübars wenige hundert Meter weiter nach Brandenburg ziehen und den täglichen Pendlerstrom mehren. Mittlerweile ist er auf 420.000 Personen zwischen Berlin und Brandenburg angeschwollen, davon 260.000 Pendler nach Berlin. Ihr Ärger über volle Regionalbahnen, verstopfte Busse und lange Staus auf den Ein- und Ausfallstraßen wird nicht ohne Auswirkungen bleiben. Die Neubrandenburger, über die sich die Politik freut, deren Steuern sie gerne nimmt, aber sonst nichts für sie tut, werden Stimmungslage und Kräfteverhältnis im Land langsam, aber dauerhaft verändern. Ihr wachsender Anteil sowie ihre entspannte Einstellung zu Berlin bei steigender Unzufriedenheit mit einer gleichgültigen Landespolitik werden das politische Klima beeinflussen. In Verbindung mit dem Bevölkerungsrückgang sowie den zunehmenden finanziellen Schwierigkeiten Brandenburgs dürfte eine Länderfusion früher auf der Agenda stehen, als manchem lieb ist. Ob sich durch die anstehende Gebietsreform Brandenburgs Perspektiven grund- legend verbessern, ist ungewiss. Was sich ganz sicher nicht ändert, sind die großen, dominanten Entwicklungstrends im eigenen Land sowie die natürliche Gravitation Berlins. Worauf die Landesregierung Einfluss nehmen kann, sind deren mittel- bis langfristige Auswirkungen. Eine kluge Politik täte vieles, um nicht bloß den Mangel zu verwalten, der Wirklichkeit hinterher zu hecheln und heimlich auf die segensreichen Wirkungen des großen Magneten Berlin zu vertrauen. Alles fängt mit einem klaren Konzept und Prioritäten bei der Verkehrsinfrastruktur an. Die Ausweichräume Berlins und die Hauptrichtungen des Zuzugs von der Hauptstadt nach Brandenburg sind bekannt. Vorhandene S-Bahn-Linien müssen entsprechend erweitert und alte Projekte aus der Zeit Berlins vor und nach der Teilung reanimiert werden. Es bedeutet die Verlängerung oder Wiederanknüpfung der S-Bahn-Verbindung von Wannsee über Dreilinden, Stahnsdorf und Kleinmachnow nach Teltow sowie von dort über Großbeeren nach Ludwigsfelde. Die Anstöße hierzu kommen längst aus den überforderten Gemeinden selbst, wofür sich auch das Bundesverkehrsministerium offen zeigt. Dass ausgerechnet die Brandenburgische Landesregierung und das Ministerium für Infrastruktur und Landesplanung keinen Bedarf sehen, ist wahrlich bemerkenswert. Dabei müsste gerade Potsdam für eine gezielte Strategie der Landesentwicklung noch viel weiter denken, nämlich an S-Bahn-Anbindungen bis nach Trebbin und Luckenwalde. Gleiches gilt für die Verlängerung der Linie von Blankenfelde über Rangsdorf nach Zossen. In beiden Orten, idealerweise beiden künftigen SBahn- Endpunkten (samt großen Park & Ride-Flächen), macht sich bereits heute die allmähliche Ausdehnung des Berliner Einzugsgebiets bemerkbar. Auch der sogenannte weitere Metropolenraum bleibt, zumal im Süden Berlins, nicht wanderungsneutral und wirtschaftlich statisch. In unmittelbarer Nachbarschaft von Lukkenwalde und Zossen liegen Jüterbog und Sperenberg. Sie standen im damaligen Raumordnungsverfahren zur Standortfindung für den gemeinsamen Flughafen zusammen mit dem finalen Sieger Schönefeld zur Diskussion. Die Landesregierung in Potsdam kennt die Situation am Flughafen Berlin-Brandenburg und weiß, dass er selbst bei sofortiger Fertigstellung das Flugaufkommen nicht mehr bewältigen könnte. Drei Jahre vor seiner nun für 2017 anvisierten Eröffnung ist er schon zu klein und für die absehbar hohe Aufstockung von Kapazitäten ungeeignet. Die Schlussfolgerungen liegen eigentlich auf der Hand. Wie passt es damit zusammen, dass Brandenburg bei Sperenberg und Jüterbog Teilflächen künftiger Flughafen-Standorte verkauft? Ohne viel Fantasie lässt sich die künftige Verkehrslage auf dem heute bereits überlasteten südlichen Autobahnring vorstellen. Um den anschwellenden Transitverkehr nach Polen zu entzerren, wird ein zweiter südlicher Ring erforderlich werden. Hierbei sollte das Land frühzeitig handeln und Entwicklungsgebiete für Wohn- und Gewerbesiedlungen im Bereich der wichtigen Verkehrskorridore ausweisen; einerseits um möglichst ungehindert agieren zu können, andererseits um Erschließungskosten aus Erlösen von Baugrundstücken zu refinanzieren und mit Entwicklungsgewinnen Mieten niedrig zu halten. Das Land verfügt über alle notwendigen und wirksamen Planungsinstrumente, nur gelangen sie nicht zum Einsatz. Innerhalb dieser großen Verkehrsstruktur lässt sich ein Generalplan für das „märkische Berlin“ als Entlastungsstadt südlich der heutigen Stadtgrenze entwickeln. Auf den ersten Blick naheliegend wäre die Entstehung einer neuen Großstadt nahe Potsdam. Alternativ bietet sich das Dreieck zwischen Trebbin, Luckenwalde und Zossen als Standort an, zumal Luckenwalde wegen seiner intakten Infrastruktur einen geeigneten Kern darstellt. Daneben sind auch gänzlich andere Modelle vorstellbar wie etwa das der Stadt Irvine, die seit den 1970er Jahren im Einzugsgebiet von Los Angeles auf Weideland um einen von der staatlichen Universität Kalifornien neu errichteten Campus entstanden ist. Sie gilt als eine der beliebtesten Städte in den Vereinigten Staaten und zählt heute eine Viertelmillion Bürger. Ausblick auf 2050 Eine ernsthafte Debatte zur Zukunft Berlins in Brandenburg und Brandenburgs mit Berlin ist längst überfällig. Die Perspektiven beider Länder sind unauflöslich miteinander verbunden, wie jeder nüchterne Blick auf Bevölkerungs- und Demographietrends, Finanz- und Schuldenlage oder Stadt- bzw. Landesentwicklung nahelegt. Dass beide nicht willens sind, ein gemeinsames Bundesland zu werden, ändert nichts an ihren Problemen. Mit gegenwärtig gerade einmal 7,5% an der Gesamtbevölkerung Deutschlands (Berlin 4,5% und Branden- burg 3,0%) und unter den Bedingungen eines veränderten Finanzausgleichs zwischen den Ländern sowie sinkenden Zuweisungen durch den Bund und die EU wird der Handlungsdruck stetig wachsen. Was beide Länder tun oder lassen, hat auch gesamtdeutsche Folgen, wird sich aber vor allem auf sie selbst auswirken. Mit den zehn wichtigsten Punkten eines Berlin-Brandenburg-Szenarios bis zur Mitte dieses Jahrhunderts wird sich die Politik auseinandersetzen müssen: Situation 2050 1. Berlin zählt rund fünf Millionen Einwohner, der Ballungsraum weitere zwei Millionen und das übrige Brandenburg etwa eine Million Menschen. 2. Die Bebauung von Frei-, Brach- und ehemaligen Industrie- sowie Verkehrsflächen in der Stadt hält mit der Nachfrage an Wohnungen bei Weitem nicht Schritt. 3. Besonders die südlichen Nachbarstädte Berlins in einem Umkreis von 30 Kilometern erfahren im Schnitt einen Einwohnerzuwachs von mindestens 50 %. 4. Es entsteht eine Entlastungsstadt Berlin-Süd, in einer Lage am und jenseits vom südwestlichen Autobahnring mit einem wahrscheinlichen Kern Luckenwalde. 5. Die S-Bahn ist als Schnellbahn bis Jüterbog ausgebaut und schließt die Orte Ludwigsfelde, Trebbin und Lukkenwalde ein. 6. Bei Schönhagen liegt der neue Flughafen für Regierungs-, Geschäftsund Privatflüge. Hinzukommen Fracht- und Nachtflüge, die Schönefeld nicht zumutbar waren. 7. Die Landesregierung in Brandenburg versucht verzweifelt, Flächen bei Sperenberg und Jüterbog für einen neuen Entlastungs-Flughafen zurückzukaufen. Es sind jene Grundstücke, die sie heute für kleines Geld veräußert hat. Der Flughafen Leipzig wird bis zu einer Lösung Entlastungsfunktion bieten. 8. Mit dem Ende der Braunkohle in Brandenburg orientiert sich auch der südöstliche Teil des Landes mit der Lausitz Richtung Metropolenregion. 9. In den aufgelassenen Tagebauregionen entstehen Freizeit- und Erholungszentren, die im Wesentlichen von Berlin und der Agglomeration leben. 10. Es bestehen nur noch finanzkräftige Großbundesländer, ein Länderfinanzausgleich ist nicht mehr nötig. Wenn Berlin und Brandenburg bis 2050 nicht die Initiative ergriffen haben, werden andere Bundesländer deren Fusion beschlossen haben.

Ulrich u. Franziska Springer erstellt am
Referenznr.: 2021-09381

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