Zum Inhalt springen

Aufbau einer Modellregion "Regionale Ernährungskreislauf Berlin-Brandenburg"

Natürliche Lebensgrundlagen und Lebensqualität

Im Jahr 2030 werden über 78 Prozent der Bundesbürgerinnen und -bürger in Städten leben – für Berlin sind rund 3,8 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner prognostiziert (mittlere Variante). Zusammen mit den ca. 2,5 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern des Landes Brandenburg haben in zehn Jahren in der Hauptstadtregion Berlin und Brandenburg knapp 6,3 Millionen Menschen ihren Lebensmittelpunkt. Hinzu kommen nahezu 500.000 Tagesgäste in der Hauptstadt, die auf die Infrastruktur und gastronomische Versorgung zugreifen.

Die Landwirtschaft sichert mit ihren Produktionskreisläufen und Produkten die Rohstoffe für die Ernährung der Bevölkerung. Seit einigen Jahrzehnten sind zusätzliche Aufgaben im Bereich der regenerativen Energieproduktion (z. B. Biogas/Biokraftstoffe) und bei der Produktion von Rohstoffen für die Industrie entstanden. Die zunehmende Globalisierung und der damit verbundene internationale Warenverkehr haben dazu geführt, dass Agrarmärkte von regionalen Standortbedingungen entkoppelt wurden. Die Auswirkungen auf Natur, Umwelt und Tierwohl sind seit den 1990ern einer zunehmenden Kritik ausgesetzt. Als eine mögliche Antwort auf zukünftige Herausforderungen bei der umweltgerechten Ernährungssicherung urbaner Räume steht das Thema regionale Wertschöpfungskreisläufe auf der Agenda der Politik. Wissenschaftler aus unterschiedlichsten Disziplinen und in vielen Ländern der Welt beschäftigen sich mit Fragestellungen zu zukünftigen Versorgungssituationen urbaner Metropolen.

Eine der Kernfragen lautet dabei, wie mehr Regionalität für die Versorgung der Menschen in Berlin und Brandenburg gewährleistet werden kann. Mit Blick auf die Produktionsschwerpunkte der Brandenburger Landwirtschaft können die Produktgruppen Fleisch- und Wurstwaren, Milch und Molkereiprodukte und Früchte des Acker- und Pflanzenbaus einen besonderen Beitrag leisten. Synergien für die regionale Verwertung von Getreide, Eiweißpflanzen oder weiteren Kulturen zum Beispiel als Futter in der Nutztierhaltung sollten berücksichtigt werden.

Im Ergebnis können Berlin und Brandenburg in einem intelligent entwickelten Kreislaufwirtschaftssystem enorme Chancen für eine nachhaltige, existenzsichernde und umweltgerechtere Land- und Ernährungswirtschaft entwickeln.

Eine regionale Ernährungsstrategie für Berlin und Brandenburg wird nicht automatisch und ohne geeignete Rahmenbedingungen realisiert werden. Sie wird auch nicht entstehen, wenn ausschließlich auf die Kräfte des freien Marktes gebaut wird. Regionale Lösungsstrategien werden große gemeinsame Anstrengungen erfordern und stellen zu den vorherrschenden wirtschaftlichen Globalisierungsmodellen einen Gegenpol dar, der auch politisch gewollt und unterstützt werden muss.

Erste Initiativen aus Berlin und Brandenburg zum verstärkten Einsatz regionaler Produkte aus Brandenburg in der Kita-, Schul- und Gemeinschaftsverpflegung wurden in 2018 bereits gestartet. Die breite Vernetzung und Koordination von landwirtschaftlicher Produktion über Verarbeitungsbetriebe der Ernährungswirtschaft bis hin zum Handel bzw. zu direkten Abnehmern der Gemeinschaftsverpflegung ist eine wichtige Zukunftsaufgabe. Hierbei sollte nicht nur auf biozertifizierte Produkte fokussiert werden, sondern Chancen für definierte Qualitätsprodukte aus der konventionellen Landwirtschaft entstehen.

Bei der Betrachtung der theoretischen Regionalpotenziale in den einzelnen Produktbereichen ist nicht die „Selbstversorgung“ der Hauptstadtregion die angestrebte Zielgröße.

Vielmehr wird in den Regionalpotentialen der brandenburgischen Land- und Ernährungswirtschaft deutlich, dass regionale Lieferketten mit definierten Qualitätsmerkmalen große Chancen für die Umsetzung einer regionalen Ernährungsstrategie bieten können. Mit steigenden Marktanteilen können Regionalität und definierte Qualität im Sinne von Nachhaltigkeitszielen nur durch höhere, faire Erzeugerpreise eine deutlich verbesserte ökonomische Ertragssituation für Land- und Ernährungswirtschaft erzielen. Regionale Ernährungsstrategien erfordern große Investitionen in den Wiederaufbau von verloren gegangenen Verarbeitungsinfrastrukturen.

Um das Gesamtpotenzial für regionale Warenströme zu verdeutlichen, zeigen kann für wichtige Produktgruppen beispielhaft die jährlichen Verbrauchsmengen in der Hauptstadtregion und Hintergründe zur aktuellen Situation brandenburgischer Lieferketten aufgezeigt werden. Es handelt sich dabei um eine grobe kalkulatorische Betrachtung, die keine detaillierte, wissenschaftliche Differenzierung in einzelne Verarbeitungsstufen vornimmt.

Theoretisches Regionalpotenzial für Schweinefleisch

a)   Der Durchschnittsverzehr je Bundesbürgerin/Bundesbürger liegt bei 35,2 Kilogramm (2019) pro Jahr. In dieser Konsummenge sind sowohl Fleisch- als auch Wurstprodukte enthalten. Der Selbstversorgungsgrad liegt bundesweit bei ca. 120 Prozent.

b)  Geht man bei einer vereinfachten Betrachtung von sechs Millionen Verbraucherinnen und Verbrauchern aus (ohne touristische Gäste), so liegt der theoretische Bedarf der Region bei jährlich 214 Millionen Kilogramm Schweinefleisch. Dies entspricht vereinfacht gerechnet ca. drei Millionen geschlachteten Schweinen pro Jahr.

c)   Bei der aktuellen Jahresproduktion von ca. einer Million Mastschweinen in Brandenburg ergibt sich ein theoretischer Selbstversorgungsgrad von deutlich weniger als 50 Prozent für die Hauptstadtregion.

Hintergrund

Der aktuelle Bestand an Mastschweinebetrieben und der Selbstversorgungsgrad der Hauptstadtregion für Schweinefleisch sind gering, rund 75 Prozent der Ferkel in Brandenburg werden in andere Bundesländer und ins Ausland exportiertSeit 1990 ist die Zahl der Schlachtbetriebe und des fleischverarbeitenden Gewerbes in Brandenburg massiv zurückgegangen. Aktuell gibt es nur noch einen vollzertifizierten Schlachtbetrieb (für Schweine) im Land. Es gibt ebenfalls nur einen größeren Verarbeitungsbetrieb in Brandenburg, der Handelsstrukturen in größeren Mengen beliefert. Die bisher nicht ausgebaute regionale Lieferkette im Land Brandenburg (Landwirtin/Landwirt – Verarbeiter lässt den Schluss zu, dass nur ein geringer Teil regionalen Schweinefleisches unmittelbar in der Gemeinschaftsverpflegung oder in den Regalen der Supermärkte der Hauptstadtregion landet. Es muss davon ausgegangen werden, dass aktuell nur ein kleiner Teil (eigene Schätzung: unter zehn Prozent) der in Brandenburg gemästeten Mastschweine auch real in einer regionalen Lieferkette in der Hauptstadtregion verbleibt.

Theoretisches Regionalpotenzial für Rind- und Kalbfleisch

  1. Der Durchschnittsverzehr je Bundesbürgerin/Bundebürger liegt bei knapp 10,0 Kilogramm (2017) pro Jahr. In dieser Konsummenge sind sowohl Fleisch- als auch Wurstprodukte enthalten. Der Selbstversorgungsgrad liegt bundesweit bei 97 Prozent.
  2. Geht man bei einer vereinfachten Betrachtung von sechs Millionen Verbraucherinnen und Verbrauchern aus (ohne touristische Gäste in Berlin), so liegt der theoretische Bedarf der Region bei jährlich rund 60 Millionen Kilogramm Rindfleisch
  3. Selbst bei der Annahme, dass sämtliche nicht für die Bestandsproduktion benötigten Rinder in Brandenburg aufgemästet werden würden, reicht das Regionalpotenzial nicht annähernd aus, um den Bedarf an Rind- und Kalbfleisch für die Region zu decken.

Hintergrund

Der größte Teil der für eine Weitermast anfallenden Kälber und Jungrinder wird nicht in Brandenburg aufgemästet. Für Rinder bestehen in Brandenburg keine ausreichenden Schlachtkapazitäten. Ein spezialisierter Verarbeiter der Ernährungswirtschaft ist nicht vorhanden. Kleinere Mengen Rindfleisch werden durch kleinere Verarbeitungsunternehmen und Hofschlachtungen im Rahmen von Direktvermarktung verarbeitet. Es muss davon ausgegangen werden, dass aktuell nur ein kleiner Teil der in Brandenburg gehaltenen Rinder auch real in einer regionalen Lieferkette in der Hauptstadtregion verbleibt.

Theoretisches Regionalpotenzial für Milch und Milchprodukte

  1. Der Durchschnittsverzehr je Bundesbürger liegt bei 50,6 Kilogramm Konsummilch pro Jahr. Dazu kommen rund 31 Kilogramm Milchprodukte wie Joghurt und Milchgetränke, 6,4 Kilogramm Butter und Sahne sowie 24,2 Kilogramm Käse (alle Werte 2018). Der Selbstversorgungsgrad bundesweit liegt bei ca. 111 Prozent.
  2. Geht man bei einer vereinfachten Betrachtung von sechs Millionen Verbraucherinnen und Verbrauchern (ohne touristische Gäste) aus, so liegt der theoretische jährliche Bedarf der Hauptstadtregion bei

Konsummilch:        315 Millionen Kilogramm,

Milchprodukte:       186 Millionen Kilogramm,

Butter:            36,0 Millionen Kilogramm (entspricht einem Bedarf von ca. 648 Millionen Kilogramm Milch),

Käse:               147,0 Millionen Kilogramm (entspricht einem Bedarf von ca. 1,47 Mrd. Kilogramm Milch)

  1. Bei einer aktuellen Jahresproduktion von rund einer Milliarde Kilogramm Milch durch die bestehenden Milchviehbetriebe in Brandenburg wäre ein theoretischer Selbstversorgungsgrad von weniger als 50 Prozent der Gesamtmenge für die regionale Versorgung der Hauptstadtregion ableitbar.

Hintergrund

Das theoretisch erreichbare Potenzial für eine regionalorientierte Versorgung mit Milch- und Milchprodukten lässt sich nur unter Berücksichtigung und Bewertung der Konzentration von überregionalen Verarbeitungsstrukturen in Deutschland und der aktuellen Marktsituationen einordnen. Tatsächlich gibt es in Brandenburg nur noch zwei Großmolkereien mit überbetrieblichen Verarbeitungskapazitäten für konventionelle Milch. Regional erzeugte Milch hat in diesen Strukturen bisher keine Bedeutung und ist nicht zurückverfolgbar. Drei weitere Molkereien sind ausschließlich auf die Verarbeitung von Milch aus ökologischer Landwirtschaft spezialisiert und haben entsprechende Lieferkontrakte mit Landwirtinnen und Landwirten aus Brandenburg und anderen Bundesländern. Zusätzlich gibt es in Brandenburg mehrere kleinere bis mittlere Hofmolkereien und Regionalmarken in der Direktvermarktung und im LEH der Hauptstadtregion. Diese Betriebe stellen allerdings selten ein Gesamtprogramm von Molkereiprodukten bereit.

Theoretisches Regionalpotenzial für Produkte des Acker- und Pflanzenbaus

Die Sicherung von Ackerbaustandorten in Brandenburg ist ebenfalls von der Erschließung neuer regionaler Marktpotenziale abhängig. Eine mögliche Integration von Ackerbaubetrieben in regional nachhaltige Liefer- und Wertschöpfungsketten wäre beispielsweise denkbar durch:

  • Stärkung des Anbaus von Kartoffeln und Freiland-Gemüse als regionales Angebot,
  • Bereitstellung von 90 Prozent der Futtermittel aus der Region,
  • den verstärkten Einsatz von regionalem Getreide bei der Etablierung von Regionalprogrammen im Bereich Schweine-/Rindermast,
  • den Einsatz heimischer Eiweißpflanzen als nachhaltigem Ersatz von z. B. Soja aus Übersee-Importen (siehe Futtermittel aus der Region),
  • eine Verarbeitungs- und Vermarktungsstrategie für regionales Getreide in Brot- und Backwaren mit der Ernährungswirtschaft in Brandenburg,
  • den Anbau alternativer Marktfrüchte mit hohem Nachfragepotenzial durch die Ernährungswirtschaft,
  • Bereitstellung von einem höheren Anteil von Z-Saatgut aus Brandenburg vor allem bei Getreide, Gräsern und Leguminosen.

Zusätzlich muss der Acker- und Pflanzenbau eine intensive Integration in Konzepte urbaner Kreislaufwirtschaft erhalten und als potenzieller Produzent regenerativer Rohstoffe für die Hauptstadtregion entdeckt und entwickelt werden. Schon heute ist die Produktion von Biogas ein wichtiger Eckpfeiler der wirtschaftlichen Ausrichtung von landwirtschaftlichen Betrieben in Brandenburg.

 

 

 

 

 

 

 

 

DirkArtmann erstellt am
Referenznr.: 2020-08777

Kommentare